Eggelingen

 

 

 

Das Leben war hinter dem Deich. Ich war nie dort.

 

Die Touristen strömten dahin. Die sommertags kamen.

 

Baden. Baden im Meer.

 

Die Möwen flogen darüber hinweg. Sie kannten das Land diesseits und jenseits des Deichs.

 

Ich habe den Strand nie gesehen.

 

Nur die Schafe vor dem Deich und auf dem Deich.

 

Grasbewachsen war der Deich ganz, ansonsten kahl im Wind, der über ihn hinwegzog.

 

Ich habe das Wasser nie gesehen.

 

Es soll mal hoch und mal niedrig sein. Angeströmt kommen und wieder hinweg.

 

Und schwarzer Schlick dann, durch den man weit gehen kann an Muscheln, Seesternen und Wurmlöchern vorbei.

 

Ich habe solche Wurmlöcher nie gesehen, nur einen trockenen Seestern fünfzackig hatte ich mal in der Hand.

 

Die Touristen sollen in Körben da liegen.

 

Ich kann mir das nicht vorstellen.

 

Aber ich horte , daß die Möwen mit schrillem Schrei ihnen die Pommes Frites aus der Luft hinabschnellend ihnen hinwegpicksen, stibitzen.

 

Ich war nie hinter dem Deich. Ich habe das Meer nie gesehen.

 

Die Wellen, man soll sie hören können.

 

Ich habe das Dorf nie verlassen.

 

Das eigentlich kein Dorf ist.

 

Auch hier war Meer. Bei Flut blieben nur einige Hügel über dem Wasser, die Warfen.

 

Künstlich hat man diese erhöht, Steinhäuser oder Kirchen dann drauf gebaut.

 

Dieses Dorf war kein Dorf.

 

Es war Wasser.

 

Wasser, das lange nicht abfloß, immer wieder baute man Siele oder Pumpen.

 

Gehöfte nur gab es. Pirateninseln. Kähne, keine Straßen.

 

Es dauerte lange, bis dieser frische junge Boden Weide wurde.

 

Weide, die tiefer lag als das Meer.

 

Wenn der Deich nicht wär.

 

Viele Deiche wurden gebaut, immer landwärts ein Stück weiter ins Meer.

 

Ich habe das Meer nie gesehen.

 

Im Schatten des Deichs liegt mein Dorf, das ohne den Deich Meer nur wär.

 

Windräder jetzt strecken sich hoch und fächern brummend den Wind, vielleicht sehen sie das Meer.

 

Ich habe über den Deich nie hinausgeschaut.

 

Warum auch ?  Ich kann nicht schwimmen.

 

Ich bleibe im Dorf, das kein Dorf war, verstreut nur Warfen und Inseln im überschwemmten Land.

 

Hier war die Welt zu Ende. Hier gab es keinen Zugang. Keine Straßen und Paraden.

 

Dies flache Land, dies weite Land es ist mein Land, weil es unverankert unter freiem Himmel liegt.

 

Weil kaum merklich paar Meter Höhe schon über Leben und Tod entschieden.

 

Weil es ein Grab wurde so vielen.

 

Und weil sie doch nie aufgaben hier.

 

Ich habe das Meer nie gesehen.

 

Aber wenn der Regen über das Land peitscht, wenn der Nebel es weiß ganz einhüllt, schmeck ich das Salz in der Luft vom Meer, dann ist alles eins, Nebel, Wasser und ich stapfe durch Pfützen am Wegrand entlang, atme die Weite, es ist als ob der Himmel ganz sich auf das Land gelegt, selbst die Bäume neigen sich im schneidenden Wind, es ist als ob Himmel und Erde verschmelzen so neigt sich der Himmel herab in sich ausgießendem Regen, und der Mensch ist nur flüchtig ein Schemen und Schatten und doch ganz sich hier, wo Himmel und Erde vermählen sich ganz zu einer Fläche aus endloser im Nebel sich verlierender Weite.

 

Am Horizont nur paar Weiden, Möwen oder Raben und das Ried oder das Rot von den Ziegeldächern einzelner Gehöfte.

 

Die weißen Plastikplanen auf den Sillagen mit den schwarzen Autogummireifen ganz beschwert.

 

Kühe ebenso schwarz und weiß.

 

Das blaße Rot von Häusern hinter grünen Wiesen, an derem Rand noch Gelb der Binsen oder roter Mohn.

 

Es ist als ob Gott gemalt die Landschaft, Häuser, Kühe hier.

 

Und plötzlich die weißen Wolken kommen und ziehen schnell wieder weg.

 

Vom Meer der Wind frischt stets alles auf. Nie abgestanden tümpelt es hier.

 

Tief atmen die Menschen, tief schauen sie auch in Flaschen und Glas bis zum Boden hinab.

 

Die Zeit bleibt hier stehen und vergeht nie.

 

Die Menschen nur kommen und gehen.

Nichts hält sie auf.

 

Sie ziehen hinaus und kommen wieder zurück.

 

Ich habe nie über den Deich gesehen.

 

Sie füllen ihre Zeit mit Feuerwehr, Posaunenchor, Jagdhornblasen, Kirchenkreis.

 

Und Boseln. Das ist die Freude darüber, daß sie endlich Straßen haben.

 

Und eine Bude haben sie auch für die Jugend.

 

Eine Kneipe schon nicht mehr.

 

Sie sitzen auf den Terrassen vor ihren Gehöften und sommertags bei der Heuernte senkt sich die Abendsonne hinab tief ins Glas bis zur frühen Morgenstunde.

 

Nachts gehen sie auf Jagd.

 

Morgens früh schon treiben sie die Kühe auf die Weide.

 

Wer weiß noch, was das Land ist ?

 

Wieviel Kühe ernährt das Land ?

 

Niemand weiß es mehr.

 

Die Kühe werden immer mehr.

 

Und das Land ernährt sie nicht mehr.

 

Nur Auslauf noch zum Laufstall und dem Kraftfutter dazu.

 

Auf ihren Hörnern tragen die Rinder den Himmel nicht mehr.

 

Sie haben keine Hörner mehr.

 

Und doch bleibt vielleicht das Land wie es ist.

 

Wenn sie es nicht zersiedeln, zu touristischen Schlafstätten machen.

 

Ich habe nie über den Deich gesehen. Ich weiß nicht, warum die Touristen suchen das Meer.

 

Und bezahlen noch dafür, teuer alles, Eintritt, Parkplatz, Hund, nur der Wind ist noch untaxiert.

 

Frischer Fisch ja, aber tiefgekühlt ist er uns näher, in der nahen Stadt gibt  alles der Supermarkt her.

 

Frische Krabben ja. Wir sind doch schon nahe dem Meer.

 

Wir leben hier manchmal in Kuttern, die längst schon im Boden versunken.

 

Wir werfen die Netze durch verrostete Anker.

 

Der Sand spült sich weg, hör ich manchmal sagen vom Meer.

 

Bei uns bleiben die Namen.

 

Middoge, Funnix, Berdum, Greehörn, Toquard, Dunum.

 

Auf der Kirche sitzt ein Schwan.

 

Eine alte Warftkirche auf einem Hügel gelegen, höher als die ganze Umgebung,

 

Rettung gewesen bei Flut.

 

Höher war sie gewesen, doch abgebrannt fast, baute man sie dann nicht mehr so hoch.

 

Aus dem abtransportierten Brandschutt zog man noch ein steinernes romanisches Taufbecken hervor.

 

Gegen Norden die zugemauerte kleine " Normannentür" noch, verlegte man den Eingang beim Wiederaufbau aber nach Westen in die Nähe des abseits stehenden wuchtigen Glockenturms, der noch immer steht.

 

Und wie er steht. So schief und schräg. Als ob er zur Erde sich neigt und umzukippen droht.

 

Aber man kann die Glocken wieder läuten, über Wiesen und Wege erschallen lassen, der Turm, er wurde stabilisiert, keine Angst muß man haben, daß das Geläut ihn zusammenfallen läßt.

 

Mitunter verschwanden die Glocken, eingeschmolzen für Kriege oder Beute einfach oder versunken in Sagen , eine der Glocken von hier läutet noch immer in Jever.

 

Die halbrunde Apsis hat man der Kirche genommen, die nun kantiger, eckiger aussieht.

 

Aber um sie herum wie seit jeher noch immer der Friedhof, die Toten die in ihrem Schatten Ruhe zu suchen vermeinen.

 

Einer der Toten aber fand seine Ruhe unbemerkt unterm Dach der Kirche, wo man ihn fand, das heißt, was an Knochen von ihm übrigblieb, als er in diesen verstaubten ab- und hochgelegenen Winkel floh oder von seinem Mörder hintransportiert wurde, um generationenlang nicht entdeckt zu werden.

 

Es scheint, daß vor den Siedlungen die Zahl der Dorfbewohner und der Bauernhäuser immer gleich blieb und der kleine Friedhof um die Kirche herum ausreichte immer.

 

An seinem Eingangstor, in die oberen steinernen Pfosten des Gittertores eingemeißelt, links und rechts das Geheimnis des Lebens und des Todes, man geht durch dieses hindurch immer, wenn man den Friedhof oder die Kirche betreten will.

 

Für jeden öffnet sich dieses Tor und für jeden schließt es sich.

 

Eingang und Ausgang. Es wurde geläutet bei Geburt so wie auch bei Tod.

 

In der Spannung dieses Tores lebt man, ob man will oder nicht.

 

Und die rot-ziegligen großen Bauernhöfe rundum vor Augen wird das Geheimnis fast körperlich, das geistig und seelisch sich spannt über das ganze Leben und doch in die kleinsten Momente mit hinein.

 

Auf dem linken Pfosten ist zu lesen : Es wird gesät verweslich

 

Auf dem rechten : und auferstehen in Herrlichkeit.

 

Anders als in Hessen oder im Rheinland, anders als in Bayern erst recht, aus den Sonntags- und Wochenendblättern erfährt man hier nicht die Zeiten der Gottesdienste, wohl aber die Telefonnummern zotigsten Vergnügens.

 

Es muß hier sehr einsame Bauern geben.

 

Und Moorgeist und Friesengeist befriedigt wohl nicht alles, aber dergleichen ist wohl mehr für Touristen.

 

Die Einheimischen bleiben bei Korn.

 

Ihre unverfälschte Sprache aber zu hören noch, ist Gabe, Geschenk und Begegnung.

 

Jahrhundertelang vermochte wohl nur der schlecht versorgte Dorfschullehrer oder der Pfarrer hier eine andere Sprache noch außer Plattdeutsch zu sprechen.

 

Aber auf Sprachen allein kommt es nicht an.

 

Wichtiger ist, daß eine scheußliche Müllverbrennungsanlage hier durch Demonstrationen, Proteste, Traktoren verhindert wurde.

 

Als ich jetzt hier war, an jeder Ecke, auf jedem Bauernhof fast brannten Osterfeuer, fackelten in die Nacht.

 

Weithin sichtbar.

 

Leute starrten ins Feuer, tranken dabei, die Luft war voll Brandgeruch, dicker Rauch, Qualmwolken legten sich auf die Felder, drangen durchs Gestrüpp hervor.

 

Flammen schlugen hoch bis an die Dachfirste der niedrigen Häuser gar.

 

Ruhig und friedlich lag das Land, als ob nichts stören könnte diese flache Marschlandschaft, als sei abgelegen hier alles nur für sich.

 

Und doch sind die größten Super- und Medienmärkte direkt um die Ecke.

 

Aber war es nicht immer so.

 

Man glaubt sich am Ende der Welt und doch ist plötzlich da Tee aus Übersee, Rum, Walfang, fremde Schiffe, Piraten, Strandräuber, Wikinger, die letzten Friesen.

 

Ein Kapitän oder Steuermann setzt sich zur Ruhe, wortkarg oder snakend in seinem Plattdeutsch, wedder bi Modern, die längst tot und hat doch die ganze Welt gesehen.

 

Das ist der Reiz dieser Gegend, von der treffend schon ein antiker lateinischer Schreiber 57 nach Christus berichtete, ob See oder Land, keiner vermag es mit Gewißheit zu sagen.

 

Zwischen Meer und Land, im Puls von Ebbe und Flut, Verschiebungen von Jahrhunderten, Gefährdung und Sicherheit, abgewonnenem Land und weggerissenem wieder, unter tiefem Himmel auf flachem Land hinter Deichen inmitten von Prielen und Sielen findet man eine Ruhe und eine eigene Natur, es wiederholt sich alles, sieht sich so ähnlich, die Bauernhöfe, Bäume, Windräder, inmitten diesem Wechselspiel von roten Ziegeln, grünen Wiesen, Binsengras am Wegesrand, kommt man zu sich.

 

Man ist ganz in der Zeit und doch außerhalb von ihr.

 

Man weiß nicht, ist man am Ende der Welt oder am Anfang wieder nur.

 

In diesen windgepeitschten Gezeiten hört alles auf, fließt weg, kommt alles neu wieder an.

 

Vieles schwimmt von einem weg, was einen nur benebelt, eingefangen, vernetzt und genommen die Sicht.

 

Man wird wieder frei, sich Geheimnissen zu nähern, dem Leben.

 

Irgendwo hat man sich verirrt zwischen dem rechten und dem linken Pfosten dieses steinernen Eingangstores einer alten Warftkirche mit ihrem Glockenturm und Friedhof sich erhebend über dem kleinen Dorf Eggelingen.

 

 

*   *   *

 

 

 

 

 

 

Wir saufen noch immer in Nobiskrug

Tage und Nächte wo bleibt nur das Leben

wo bleibt nur der Tod

wir saufen noch immer in Nobiskrug

kein Nachen fährt uns zu Hel

das witte Aaland noch fern

Krähen fliegen im Wind

Windmühlen zermahlen den Mond

wir saufen noch immer in Nobiskrug

auf den Deichen wiehern die Pferde

die weiße Frau entstieg den Nebeln

das rote Haar des Friesenkönigs lodert im Feuer

das Blau des Himmels brennt sich in das Rot der Ziegel

die Augenblicke all versunken in dem Moor ?

dumpf tönt die Glocke über Gräben

auf der Dorfkirche sitzt ein Schwan

die Salzwiesen dösen spiegelnd im glitzernden Licht

die Wolken fallen ganz auf Meer und Land

wo die Welt zu Ende geht

weiden die Schafe sanft

der Wind weht sich die Bäume ganz zurecht

ein heller Schrei stößt sich vom Ufer

die Möwe weiß, nie endet diese Ferne, Weite hier

wir saufen noch immer in Nobiskrug

kein Nachen fährt uns zu Hel

das witte Aaland noch fern

wir saufen noch immer in Nobiskrug

Tage und Nächte wo bleibt nur das Leben

wo bleibt nur der Tod ?

nie leert sich das Glas noch die Flasche in Nobiskrug

wenn die Worte schon all

glüht noch das Salz auf der Lippe

 

 

 

 

 

 

zurück zu Prosa